Evidenzstufen und Empfehlungsgrade

Evidenzstufen und Empfehlungsgrade - physioSalzburg

Prof. Dr. habil. Jan Mehrholz ist Physiotherapeut und Professor für Therapiewissenschaften an der SRH Fachhochschule Gera.
Je besser das Design einer Studie ist, desto höher ist ihre Qualität. Je höher ihre Qualität ist, desto höher ist ihre Evidenzstufe. Und je höher ihre Evidenzstufe ist, desto eher können Wissenschaftler daraus eine Therapieempfehlung ableiten.
Ob eine Studie aussagekräftig und auf andere Patienten übertragbar ist, hängt vorwiegend von ihrem Design ab. Stehen Experten bei der Erstellung von Leitlinien viele Studien mit gutem Design zur Verfügung, wirkt sich das positiv auf den Grad ihrer Therapieempfehlungen aus.

Design bestimmt Evidenzstufe

Wissenschaftliche Arbeiten, deren Aussagekraft begrenzt ist, sind zum Beispiel Einzelfallstudien (engl.: case studies): Wenn der Autor darin beispielsweise feststellt, dass sich die Nackenschmerzen seines Patienten im Verlauf der physiotherapeutischen Behandlung verbessern, kann er dieses Ergebnis nicht auf alle Patienten mit Nackenschmerzen übertragen. Denn er weiß weder, ob alle Patienten mit Nackenschmerzen von Physiotherapie profitieren, noch kann er belegen, dass die Behandlung an sich diese Verbesserungen erbracht hat. Aus Einzelfällen erfährt man lediglich etwas über die beobachteten und dargestellten Veränderungen, weitere Überlegungen sind nur Mutmaßungen. Einzelfallstudien haben somit eine niedrige Evidenzstufe.
Zu den Arbeiten mit hohen Evidenzstufen gehören zum Beispiel randomisierte kontrollierte Studien, da sie eine höherwertige wissenschaftliche Basis bieten, um über die Wirksamkeit einer Therapie urteilen zu können.

Evidenzstufen nicht einheitlich

Je hochwertiger das Design einer Studie also ist, desto höher ist ihre Evidenzstufe. Je nachdem, welche Institution diese Einordnung vornimmt, können sich die einzelnen Evidenzstufen allerdings voneinander unterscheiden. Die Agency for Health Care Policy and Research (AHCPR) - ein Forschungszweig des amerikanischen Gesundheitsdienstes - verwendet beispielsweise sechs Evidenzgrade (Tab.). Die höchste Aussagefähigkeit haben nach dieser Einteilung Studien der Evidenzstufe Ia. Dazu gehören systematische Reviews randomisierter kontrollierter Studien.


Evidenzklassen beeinflussen Therapieempfehlungen

Wenn Experten Leitlinien veröffentlichen, geben sie darin Empfehlungen, welche Therapieoptionen man bei bestimmten Krankheitsbildern verwenden sollte. Diese Empfehlungen hängen wiederum von den Evidenzstufen der Studien ab, die die Experten für ihre Leitlinien heranziehen können: Je hochwertiger die zum Thema gefundenen Arbeiten sind, desto höher ist der Grad der Therapieempfehlung.
Auch dabei gibt es verschiedene Einteilungen. Die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) verwendet drei Grade:
  • Eine Empfehlung mit dem Grad A verfügt über schlüssige Literatur von guter Qualität, die mindestens eine randomisierte Studie mit den Evidenzgraden Ia oder Ib enthält.
  • Eine Grad-B-Empfehlung wird mit gut durchgeführten, nicht randomisierten klinischen Studien der Evidenzgrade II oder III belegt.
  • Eine Empfehlung mit dem Grad C kennzeichnet Berichte und Meinungen von Experten oder klinische Erfahrungen anerkannter Autoritäten, die die Evidenzstufe IV aufweisen. Direkt anwendbare klinische Studien guter Qualität fehlen bei dieser Empfehlung.


Qualität und Empfehlungen einheitlich beurteilen

Die unterschiedlichen Einteilungssysteme erschweren den Vergleich von Studien und Therapieempfehlungen. Aus diesem Grund entwickelten Experten das GRADE-System. Dessen Ziel ist, Qualität und Empfehlungsstärken einheitlich bewerten und daraus Empfehlungen formulieren zu können. Dieses System erläutert Roger Hilfiker in einer der nächsten Ausgaben von physiopraxis.

aus: physiopraxis 2010; 8(6): 20
DOI: 10.1055/s-0030-1262228