Multitasking oder die Illusion effizient zu sein

Multitasking oder die Illusion effizient zu sein - physioSalzburg
Moderne Medien machen uns wunderbar effizient. Alles lässt sich sofort und gleichzeitig erledigen - Smartphone, Twitter & Co. sei Dank. Studien von Neurowissenschaftlern zeigen aber: Alles eine Illusion, unser Gehirn taugt nicht zum Multitasking. Es macht uns nicht nur langsamer, sondern birgt auch Gefahren.
Über den Varieté-Künstler Harry Kahne staunten die Menschen in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten nicht schlecht: Der Mann "with the Multiple Mind" schrieb nicht nur gleichzeitig mit beiden Händen und Füßen, sondern nahm auch noch den Mund dazu. Rechts entstand dabei z. B. Spiegelschrift, während er links rückwärts schrieb, natürlich fehlerfrei. Und wenn er den Stift aus dem Mund nahm, las er seinen Zuschauern noch aus der Zeitung vor, beantwortete ihre Fragen oder löste Rechenaufgaben. Mindestens 6 anspruchsvolle geistige Aufgaben konnte Harry Kahne gleichzeitig bewältigen - "ein Genie", wie ein Beobachter damals anerkennend feststellte. Der Künstler selbst widersprach: "Es ist alles eine Frage von Übung und Praxis", sagte er in einem Zeitungsinterview 1925. "Genauso wie ein Akrobat oder Jongleur seine Muskeln und Nerven trainiert, habe ich Hirnzellen trainiert, die der durchschnittliche Geistesarbeiter selten benutzt."

Multitasking: Tu alles, und zwar sofort!

Etliche Jahrzehnte später scheint es fast, als hätten wir alle trainiert wie Harry Kahne:
Beim Autofahren richten wir uns nicht nur nach dem Verkehr, sondern auch nach dem Navi, während wir außerdem den besten Radiosender suchen. Bei der Arbeit machen wir am Computer gerade einen Termin mit einer Klientin aus, während uns der Bildschirm anzeigt, dass die Kollegin aus dem Urlaub eben eine E-Mail geschickt hat. Am unteren Rand sagen wichtige RSS-Feeds etwa, welcher Politiker gerade in Afghanistan weilt, und wir schielen schnell auf das Handy, ob nicht eine SMS wartet, die noch beantwortet werden will.
Nach der Arbeit einfach nur ins Fitness-studio gehen oder joggen, ohne gleichzeitig das Gehirn zu trainieren?! So eine Zeitverschwendung geht kaum noch - ein lehrreicher Podcast lässt sich dabei prima hören oder zumindest ein wichtiges Telefonat per Freisprechanlage erledigen.
Da es mittlerweile genauso wichtig wie alltäglich geworden ist, viele Dinge gleichzeitig zu tun, haben wir dafür ein Wort erfunden, an das zu Zeiten Harry Kahnes noch niemand gedacht hat: Multitasking, zusammengesetzt aus dem lateinischen multi für "viele" und dem englischen task für "Aufgabe". Ursprünglich kommt der Begriff aus der Informatik und charakterisiert ein Betriebssystem, das mehrere Aufgaben nebeneinander ausführt. Das System aktiviert dabei verschiedene Prozesse abwechselnd, aber in so kurzen Abständen, dass dabei der Eindruck entsteht, sie liefen gleichzeitig ab. Während der Rechner z. B. auf den nächsten Tastendruck seines Benutzers wartet, nutzt der PC die Zeit für andere Prozesse - seine Auslastung steigt, er arbeitet effizienter.

Der Zeitgewinn ist nichts als Illusion

Schön wäre es, wenn sich das Prinzip einfach auf den Menschen übertragen ließe. Neurowissenschaftler, die das Phänomen Multitasking erforschen, kommen aber fast einhellig zu einem anderen Ergebnis: Es funktioniert nicht. Unser Gehirn ist kein Betriebssystem. Wir ermüden, wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit schnell zwischen Aufgaben hin und her wechseln. Multitasking stresst, wir machen mehr Fehler und werden v. a. langsamer, aber nicht schneller.
Arbeitspsychologen aus den USA haben in einer Studie gemessen, wie viel Zeit Büromitarbeiter verlieren, wenn sie häufig zwischen 2 oder mehreren Aufgaben wechseln müssen, anstatt sich auf ein Problem zu konzentrieren. Von einer Stunde bleibt angeblich weniger als eine halbe Stunde konzentriertes Arbeiten übrig.
Nicht nur das schnelle Hin- und Herspringen strengt an, das menschliche Gehirn ist auch nicht dafür gebaut, sich auf mehrere Sachen gleichzeitig zu konzentrieren. Der Neurowissenschaftler Prof. Marcel Adam Just untersuchte in Pennsylvania (USA) junge College-Studierende, die in einem Auto-Simulator eine kurvige Strecke entlangfahren sollten. Eine Gruppe blieb ungestört, in der anderen bekamen die Teilnehmer während des Fahrens über eine Freisprechanlage Sätze zu hören, die sie entweder als wahr oder falsch beurteilen sollten. Gleichzeitig maßen Prof. Just und sein Team mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) die Aktivität in unterschiedlichen Hirnare-alen der Probanden. Die Teilnehmer in der "sprechenden Gruppe" konnten den Kurven nicht mehr akkurat folgen - ein Ergebnis, das sich im fMRT widerspiegelte: Während die Studierenden den Fragen zuhörten, nahm ihre Hirnaktivität in dem Areal, das räumliche Seheindrücke verarbeitet, um mehr als ein Drittel ab. "Das Fahren verschlechtert sich schon, wenn wir uns gleichzeitig nur auf Sprache konzentrieren", verdeutlicht Prof. Just. "Dabei müssen wir noch nicht einmal ein Telefon in der Hand halten." In einer weiteren, ähnlich aufgebauten Studie in einem Auto-Simulator untersuchten die Forscher die Reaktionszeit der Probanden. Diese sank, wenn die Teilnehmer Fragen beantworten mussten - Multitasking kann also durchaus gefährlich werden.

Trainieren nützt nichts

Um auf Harry Kahne zurückzukommen: Vielleicht waren die Teilnehmer in diesen Versuchen einfach nicht trainiert genug? Eine weitere Untersuchung widerspricht dieser Annahme. Forscher aus Kalifornien verglichen im vergangenen Jahr Studierende, die in ihrem Alltag oft verschiedene Medien gleichzeitig nutzten - sog. heavy multitasker -, mit Kommilitonen, die dies kaum taten - sog. light multitasker. In beiden Gruppen untersuchten sie das Denkvermögen der Teilnehmer. Blieben die Probanden ungestört, unterschieden sich heavy multitasker und light multitasker nicht. Aber: In den Tests, in denen das Wechseln zwischen verschiedenen Aufgaben geprüft wurde, schnitten die geübten Multitasker schlechter ab. Es fiel ihnen schwerer, zwischen den Aufgaben hin und her zu wechseln, und sie ließen sich schneller von unwichtigen Reizen aus der Umgebung ablenken. Obwohl sie das Hin- und Herspringen zwischen unterschiedlichen Informationskanälen also jeden Tag übten, hatte ihnen dieses Training nichts genutzt. Die heavy multitasker waren langsamer, und ihre Aufmerksamkeit hatte gelitten. Allerdings weisen die amerikanischen Wissenschaftler auch darauf hin, dass dieses Experiment nicht beweisen kann, ob der Aufmerksamkeitsverlust wirklich eine Folge des Multitaskings ist. Es könnte genauso gut sein, dass die Menschen, die sich sowieso schlecht auf eine Sache konzentrieren können, zum Multitasking neigen.

Immer schön eins nach dem anderen

Da fast alle Medien und die Kommunikationsformen, die zum Multitasking führen, noch recht jung sind, steht natürlich auch die Erforschung dieses Phänomens erst am Anfang. Ob und wie sich unser Denken, unsere Wahrnehmung, unsere Art zu lernen und zu kommunizieren durch Multitasking dauerhaft verändern wird, werden wir erst in einigen Jahren besser verstehen. Einige Neurowissenschaftler gehen auch davon aus, dass sich Multitasking bis zu einem gewissen Grad erlernen lässt. Und Psychologen in den USA fanden in diesem Jahr in einer weiteren Auto-Simulationsstudie angeblich 5 unter 200 Probanden, die trotz Telefonierens am Handy ihren Parcours fehlerfrei absolvierten. Supertasker tauften sie diese.
Menschen mit solch besonderen Fähigkeiten mag es geben, genauso wie es Harry Kahne gegeben hat. In der Regel aber gilt: Es ist keine Schande, Multitasking anstrengend zu finden, es ist normal. Wir arbeiten nicht schneller oder effizienter, wenn wir versuchen, möglichst viele mediale Kanäle auf einmal zu nutzen. Ratsamer ist vielmehr, sich vor Reizüberflutung zu schützen. Dafür gibt es ein paar Tricks: E-Mails sollte man z. B. am besten nur zu festgelegten Zeiten abrufen, etwa einmal morgens und einmal nachmittags. Zwischendurch lässt man sein Postfach am besten geschlossen. Ganz schlecht sind Bildschirmsignale, wenn eine neue E-Mail eingetroffen ist, egal ob es "Ping" macht oder ein Briefsymbol erscheint - beides stört. Sinnvoll ist auch, private und berufliche E-Mail-Adressen strikt zu trennen. Gleiches gilt für die Telefonnummern, unter denen man erreichbar sein will. Handys lassen sich gut ab und zu ausschalten. Und bei allen Botschaften, die einen erreichen, sollte man sich immer mal wieder fragen, ob man hier wirklich noch zwischen Sinn und Unsinn unterscheidet. Was ist wirklich so wichtig, dass es unserer Aufmerksamkeit bedarf? Der Struktur jedes einzelnen Arbeitstags tut es sehr gut, wenn man sich vornimmt: Immer schön eins nach dem anderen.
Silja Schwencke
Artikel in:Orthop Unfall 2011; 149(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0031-1274123