Neurodynamik in der Neurorehabilitation

Neurodynamik in der Neurorehabilitation - physioSalzburg
Artikel von Joachim Schwarz in Physiopraxis
Viele Konzepte in der Neuroreha wollen Muskelfunktion und das motorische Lernen verbessern. Physiotherapeutin und Bobath-Instruktorin Nora Kern ist das zu einseitig. Sie überprüft zusätzlich, ob bei den Patienten die Mechanik des peripheren Nervensystems intakt ist. Denn ansonsten kann es zu Schutzmechanismen kommen - und damit zu Reaktionen, die man früher als spastische Muster bezeichnete.
Nora Kern wurde als Bobath-Instruktorin 1991 auf den ersten Neurodynamik-Kurs eingeladen, den David Butler in Europa gab. Als sie ein paar Jahre später begann, mit der Maitland-Instruktorin Gisela Rolf zusammenzuarbeiten, übernahm sie vieles aus dem Maitland-Konzept und der Neurodynamik in die Therapie mit neurologisch erkrankten Patienten. Seit 2004 unterrichtet Nora Kern das aus dieser Kooperation entstandene Konzept „Integration der Neurodynamik in die Neurorehabilitation (INN)”. Inzwischen hat sie es weiterentwickelt und integriert die Neurodynamik unter anderem auch in die Therapie des Facio-Oralen Traktes (FOTT) und in die von Kindern mit Zerebralparese.
Frau Kern, warum sollte man die Neurodynamik in die Neurorehabilitation integrieren?
Bisher ging man davon aus, dass Menschen nach einer zentralen Läsion primär Probleme damit haben, motorische Fähigkeiten neu zu erlernen. Daher hat man alle Untersuchungen auf das motorische Lernen sowie auf die vorhandenen Störungen ausgerichtet. Ich schaue hingegen, inwieweit Störungen in der Biomechanik der peripheren Nerven die Patienten daran hindern, etwas wieder zu lernen beziehungsweise Vorhandenes zu benutzen. Damit folge ich der Erkenntnis der Neurodynamik, dass die Physiologie und die Biomechanik des Nervensystems nicht voneinander zu trennen sind.
Eine Ihrer Theorien lautet: Bei den als spastische Muster bekannten Arm- und Beinbewegungen handelt es sich um einen unwillkürlichen Schutzmechanismus des Nervensystems.
Ich glaube, dass das Nervensystem nach einer Läsion, zum Beispiel einem Schlaganfall, versucht, Entlastung zu bekommen, indem es die Spannung aus den peripheren Nerven nimmt. Dadurch entstehen diese Stellungen, die man üblicherweise als spastische Muster und assoziierte Reaktionen bezeichnet. Sie entstehen also nicht, weil das ZNS geschädigt ist, sondern um das geschädigte Nervensystem vor zu viel Spannung zu schützen.
Passend dazu entsprechen sie auch genau den Umkehrungen der neurodynamischen Tests. In einem Buch von Michael Shacklock gibt es eindrückliche Fotos einer Dame, die nach einer peripheren Schädigung in einer Entlastungsstellung für die lumbosakralen Nervenwurzeln liegt. Diese Dame hat die exakt gleiche Position wie Patienten nach Schlaganfall, wenn sie ungelagert im Bett liegen. Solche Parallelen findet man häufiger. Wenn es zu einer Verletzung des Nervensystems kommt, scheint es sich also entlasten zu müssen - vielleicht, um damit die Läsion nicht weiter voranzutreiben, vielleicht, um die Heilung nicht zu stören.
Dem liegt das Modell zugrunde, das gesamte Nervensystem hänge wie ein Spinnennetz zusammen. Glauben Sie also, dass es ungünstig für den Heilungsprozess im Gehirn sein kann, wenn von peripher zu viel Spannung auf das Nervensystem wirkt?
Ja, das ist mein Denkmodell. Durch das Koma oder die sogenannte schlaffe Phase gibt es anfangs überhaupt keine Spannung. Danach haben Patienten nach Schlaganfall meist wesentlich geringer ausgeprägte Muster als solche nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Man konnte bisher nicht genau sagen, warum. Die Idee wäre, dass bei einem Schädel-Hirn-Trauma nicht nur das Gehirn selbst verletzt wird. Oft haben die Patienten auch eine Blutung im Subarachnoidalraum, auf alle Fälle ein Schleudertrauma und dann noch Verletzungen der inneren Organe, Knochenbrüche und so weiter. Also eine Vielzahl von Verletzungen, die das Nervensystem direkt oder indirekt betreffen.
Entwickeln Patienten nach einem Schädel-Hirn-Trauma also einfach deshalb schneller Kontrakturen, weil die Läsion des Nervensystems wesentlich größer ist als nach einem Schlaganfall?
Genau.
Ihr gesamtes Modell ist ein neuer Denkansatz in der Neuroreha…
Man muss einfach verstehen, dass spastische Muster nicht irgendein Konstrukt sind, das unbeeinflussbar aufgrund einer Hirnläsion entsteht. Sie sind eine Reaktion der Peripherie auf die zentrale Läsion und nichts anderes als die biomechanische Entlastung für die peripheren Nerven. Dadurch gibt es einen zusätzlichen mechanischen Ansatz für die Therapie - egal, nach welchem Konzept man behandelt. Ich als Bobath-Instruktorin kann inzwischen viele theoretische Annahmen aus dem Bobath-Konzept nicht mehr vertreten, weil ich die Neurodynamik im Hinterkopf habe. Bei der Fazilitation des Patienten, dem 24-Stunden-Management usw. halte ich mich weiter an das Bobath-Konzept. Die Aktivitäten des Patienten wie Waschen, Gehen oder auch die Menge der Hilfestellung nehme ich nun jedoch nur noch für den Wiederbefund. Verbessert sich der Patient durch die passive Therapie, liegt das daran, dass sich die Biomechanik der neuralen Strukturen verbessert hat und dadurch die physiologische Impulsweiterleitung effektiver ist.
»Spastische Muster entstehen, weil das Nervensystem versucht, sich zu entlasten.«
Entstehen diese biomechanischen Einschränkungen des peripheren Nervensystems direkt durch die Läsion oder weil sich der Patient anschließend nur noch eingeschränkt bewegen kann?
Das ist ganz schwer zu sagen. Mit Patienten in der Akutphase nach Schlaganfall arbeite ich nicht und kann daher nichts über die allererste Woche sagen. Aber ich weiß, dass viele davon von ihrer passiven Beweglichkeit her noch unauffällig sind, wenn sie auf der Intensivstation liegen. Das lässt vermuten, dass sich diese peripheren Limitierungen erst mit der Zeit entwickeln. Später könnte es durchaus sein, dass die Plastizität des Gehirns zwar Kompensationsmöglichkeiten geschaffen, die Peripherie aber - und da vor allem der bindegewebige Anteil - sich bereits ungünstig verändert hat. Zusätzlich ist das Gehirn zu der Überzeugung gelangt, dass die betroffene Seite nicht mehr zu gebrauchen ist, denn das wird ja leider von manchen Ärzten und Therapeuten immer wieder betont. Entsprechend lassen wir den Patienten Alltagsgeschehnisse mit einer Seite durchkämpfen, um danach mit der anderen Seite ein paar tolle Übungen zu machen.
In der Therapie versuchen Sie, das periphere Nervensystem nach und nach wieder zu bewegen. Sie wollen verhindern, dass sich aus diesen Schutzreaktionen Bewegungseinschränkungen entwickeln. Daher gönnen Sie dem Nervensystem kurz nach der Läsion Ruhe, um die Heilung des ZNS nicht zu behindern. Doch mit der Zeit belasten Sie es mehr und mehr, um das normale Bewegungsausmaß wiederherzustellen. Also ein ganz mechanischer Therapieansatz, ähnlich einer Verletzung mit einer Narbe.
Das könnte man so vergleichen. Ich will die Biomechanik mehr in den Fokus der Neuroreha stellen - auch wenn es natürlich nicht ausschließlich darum geht. Man muss sich darüber klar sein, dass man als Therapeut die Läsion des Nervensystems selbst nicht beeinflussen kann, wohl aber dessen Biomechanik: Man kann das Gleiten und Auffalten der Nerven verbessern. Davon profitiert deren Durchblutung, die Impulsweiterleitung und so weiter.
Sie schaffen also auf diesem Weg quasi die biomechanischen Voraussetzungen, damit sich die Betroffenen wieder normal bewegen können.
Genau. Im sehr akuten Stadium benutze ich für die passiven Mobilisationen nur geringe Mobilisationsgrade und bin sehr achtsam gegenüber Widerständen. Im chronischen Stadium wird es dann intensiver. Aber bewusst nicht am Anfang. Mobilisiert man im Anfangsstadium, in dem sich die Patienten oft noch nicht gegen eine Mobilisation wehren können, zu intensiv, kann das gesamte System überreagieren.
Die Therapie scheint ähnlich abzulaufen wie bei einem Patienten mit einem „orthopädischen” Problem.
Ja. Ich habe aktive Befunde wie das eingeschränkte Gehen oder das ungerichtete Greifen eines Glases. Dann suche ich nach passiven Befunden, zum Beispiel Auffälligkeiten bei neurodynamischen Tests oder steifen Gelenken. Diese werden übrigens meiner Meinung nach in der Neuroreha ebenfalls zu wenig beachtet. Nun mobilisiere ich die steifen Gelenke oder die Bewegungskomponenten, die bei den neurodynamischen Tests eingeschränkt waren. Danach mache ich zuerst den passiven, anschließend den aktiven Wiederbefund, indem ich schaue, ob der Patient präziser greifen oder besser gehen kann. Im Gegensatz zu anderen Neuroreha-Konzepten enthält meine Therapie einen hohen Anteil an passiven Techniken.
»Im Gegensatz zu anderen Neuroreha-Konzepten verwende ich viele passive Techniken.«
Wie schnell ändern sich die Befunde nach den Mobilisationen?
Schnell - wenn ich am richtigen Ort mobilisiere. Die Muskeln sind sozusagen bereit, wieder zu arbeiten, wenn sie die Möglichkeit bekommen. Sind die Widerstände aufgrund der veränderten neuralen Biomechanik allerdings sehr hoch, haben schwache Muskeln keine Chance. Vor einer Woche hatte ich eine Supervision bei einem Patienten, der seinen Arm nur schlecht strecken konnte und keine gute Kontrolle darüber hatte. Er sollte das Stützen lernen. Die Kollegin mobilisierte bei ihm die deutlich steife LWS. Anschließend konnte er den Arm spontan neben sich stützen wie den anderen Arm auch. Bis man solche Zusammenhänge bei einem Patienten herausfindet, dauert es natürlich. Aber man sollte nicht davon ausgehen, dass das Problem in einem solchen Fall zwangsläufig direkt im betroffenen Arm liegt.
Gibt es - so wie bei Patienten mit orthopädischen Problemen auch - klinische Muster? Also Anhäufungen von mehreren Symptomen und körperlichen Befunden, die man bei Betroffenen mit den gleichen Beschwerden immer wieder findet?
Was bei fast allen gleich ist - egal, ob sie einen Schlaganfall haben, ein Schädel-Hirn-Trauma oder eine infantile Zerebralparese: Die Neuraxis - also alle Strukturen innerhalb des Spinalkanals - wird oder ist steif. Die Flexion der Neuraxis zentriert das Rückenmark im Spinalkanal. Wird der Rumpf nicht häufig genug gebeugt, kann sich das Rückenmark mit der Zeit auf einer Seite des Spinalkanals fixieren, da in Extension alle Ligamente und bindegewebigen Strukturen entspannt sind. Das wirkt sich dann negativ auf das Nervensystem in der Peripherie aus. Die Flexion ist für die Neuraxis absolut notwendig. Die Ganglienkette des autonomen Nervensystems liegt rechts und links neben der Wirbelsäule, ist also ebenfalls von Bewegung abhängig. Zudem liegt im dorsalen Anteil des Rückenmarks, der bei Flexion vor allem aufgefaltet wird, unter anderem der Hinterstrang, der afferente Informationen zum Gehirn bringt. Vielleicht ist der Grund für ernste Sensibilitätsstörungen die mangelnde Bewegung des Rumpfes in Richtung Flexion.
Wie kann man eine steife Neuraxis verhindern?
Schon am ersten Tag kann die HWS der Betroffenen in leichter Flexion eingestellt werden. Es würde genügen, die Kopfkissen zu optimieren. Aber wenn man nicht darauf achtet, dass der Patient in leichter Flexionsposition liegt und sehr viel schonend bewegt wird, werden vielleicht schon in der ersten Woche die Weichen für spätere Sekundärkomplikationen gestellt. Die deutlichste Ausprägung ist der Opisthotonus (das Überstrecken nach hinten, Anm. d. Red.), der einer Entlastungsstellung für den Slump-Test entspricht. Zwar wird immer propagiert, man solle den Rumpf behandeln, aber dabei geht es immer um muskuläre Kontrolle und Rumpfaufrichtung - und zu wenig um die Mobilität der einzelnen WS-Abschnitte.
Doch das größte Problem der neurologisch erkrankten Patienten ist wahrscheinlich, dass sie nicht nur eine, sondern zig periphere Störungen haben. Und das macht es so schwierig. Denn man muss jede einzelne aufspüren und anschließend herausfinden, welche davon die anderen wie beeinflusst.
Gibt es Denkansätze in der Neuroreha, von denen Sie heute sagen würden: Die können so nicht stehenbleiben?
Modelle, die ausschließlich auf Muskeln und Muskelkräftigung zielen, sind ebenso ungünstig wie diejenigen, die Körperstrukturen überhaupt nicht beachten und ausschließlich auf die Hirnläsion fokussieren. Ich versuche immer, sämtliche Strukturen einzubeziehen. Die Muskelkraft beispielsweise hängt absolut von der Beweglichkeit der beteiligten Gelenke ab. Je mehr ich eingeschränkt bin, desto weniger effektiv ist ein Muskeltraining. Die Patienten brauchen oft erst einmal Hilfe von außen - also passive Mobilisationen -, um überhaupt ein Mindestmaß an Beweglichkeit zurückzugewinnen.
Gibt es Konzepte, die in Ihren Augen das Richtige machen, aber falsch begründen?
Nehmen Sie Berta Bobath. Sie hat in den 50er-Jahren propagiert, man solle den Arm in einer Abduktionsposition des Schultergelenks lagern, die exakt dem ULNT 1 entspricht. Das Lagern in dieser Art hat sie selbst bald danach widerrufen, das war ein Dauerstress für alle Strukturen. Aber die Position selbst war richtig. Sie hat in die heutigen Testpositionen hineinmobilisiert, ohne je das Wort „neurale Strukturen” gehört zu haben.
Worin liegt das Problem mit der Lagerung des Armes?
Wenn ich meine Kursteilnehmer Selbsterfahrungen machen lasse, bei denen sie ihren Arm in die Endposition des ULNT 1 bringen und dort lange bleiben sollen, beobachte ich bei ihnen alle Reaktionen, die auch schwerstbetroffene SHT-Patienten zeigen: Ausweichbewegungen, mangelnde Bereitschaft, weiterzumachen, und sogar Aggression. Diese Reaktionen, die immer als pathologisch beschrieben werden, scheinen normal zu sein, wenn unser Nervensystem zu sehr ans Limit gebracht wird. Und das kann bei Patienten manchmal schon sehr früh sein, etwa beim Öffnen der Hand. Patienten mit ZNS-Läsionen müssten insgesamt sowieso viel mehr bewegt werden. Gesunde Menschen machen etwa 4.000 Armbewegungen pro Tag. Jemand mit Hemiparese, der übt, kommt auf 20 bis 30. Wir liegen in der Therapie also immer darunter. Und was das Nervensystem nicht mag, sind Dauerpositionen. Je mehr man es bewegt, desto günstiger.
Ist das möglicherweise auch einer der Gründe, warum zum Beispiel die Forced-Use-Therapie so gut funktioniert? Weil sich durch das viele Bewegen nicht nur die Plastizität verbessert, sondern auch die Biomechanik des Nervensystems?
Gut möglich.
Was ist Ihnen bei der Arbeit mit Ihren Patienten noch aufgefallen?
Viele Patienten haben irrsinnig Angst, während man sie bewegt. Entweder Angst, zu fallen, oder Angst vor Schmerzen. Mir fiel das zuerst bei den Transfers mit Schwerstbetroffenen auf. Wenn ich heute merke, dass sich beim Patienten Widerstand aufbaut, frage ich ihn: „Haben Sie Angst, dass ich Sie von der Bank schubse?” Und viele von ihnen sagen selbst dann „ja”, wenn sie in der Mitte der Bank liegen und ich sie langsam bewege. Für Außenstehende ist das nicht nachvollziehbar. So, wie man Patienten mit chronifizierten Schmerzen die Angst vor den Schmerzen nehmen muss, muss man Patienten mit neurologischen Erkrankungen die Angst vor dem Fallen nehmen. Nicht nur die Mechanik ist bei diesen Patienten in Aufruhr, auch das Denken. Deshalb arbeite ich mittlerweile mit ganz vielen Lagerungsmaterialien, Kissen, verstellbaren Bänken und Tischen.
Woran liegt es, dass die Angst der Patienten zu wenig Beachtung findet?
Daran, dass sie es nicht sagen. Denn dazu müssen sie kognitiv fit sein und sich trauen. Die Patienten erkennen vielleicht, dass ihre Angst irgendwie unbegründet und komisch ist. Deshalb muss ich als Therapeut ihnen anbieten, es sagen zu können. Damit zeige ich: Sie sind nicht verrückt, und ihre Angst ist nicht unbegründet, denn sonst würde ich nicht danach fragen. Den Angstfaktor muss man herausfinden und eliminieren. Wenn ich Patienten immer mit der bestmöglichen Fazilitation bewege und nur so weit, dass sie absolut ohne Widerstand folgen können, irritiere ich das Nervensystem nicht - und beruhige gleichzeitig das Denken. Meiner Meinung nach kann eine erfolgreiche Reha nur so funktionieren.
aus: physiopraxis 2011; 9(2): 30-33
DOI: 10.1055/s-0031-1273182