Intuition in der Physiotherapie

Intuition in der Physiotherapie - physioSalzburg
Verena Kopp, BSc NL, arbeitet seit neun Jahren als Physiotherapeutin und ist zudem seit zwei Jahren für die Redaktion physiopraxis tätig. Die Tatsache, dass der Bauch in gewissen Momenten klüger sein kann als der Kopf, ermutigt sie, mehr auf ihre Intuition zu achten.
Physiotherapeuten streben in ihrer Arbeit danach, sich an objektiven Kriterien und Evidenz zu orientieren. Auf das subjektive Bauchgefühl zu hören, erscheint auf den ersten Blick fehl am Platz. Und doch setzen Therapeuten ihre Intuition in gewissen Fällen berechtigt ein.
Nur 10 % unserer Entscheidungen treffen wir mit unserem Verstand - ganze 90 % emotional. Das behauptet der klinische Psychologe Dr. Burkhard Busch in seinem Buch „Denken mit dem Bauch. Intuitiv das Richtige tun” [1]. Einige Beispiele: Ohne darüber nachzudenken, erkennen wir an der Körperhaltung unseres Gegenübers, ob er gut oder schlecht gelaunt ist, und gehen dementsprechend auf ihn zu. Während wir uns im Auto mit dem Beifahrer unterhalten, entscheiden wir intuitiv, ob wir bei Gelb noch über die Kreuzung fahren. Ein Makler an der Börse entscheidet sich in weniger Zeit als einem Wimpernschlag für oder gegen eine Aktie.

Beim Bauchgefühl bleibt die Warum-Frage offen

Seit einigen Jahren wenden sich Wissenschaftler dem Thema Intuition zu. Bis in die 1980er Jahre nahmen sie noch an, dass das menschliche Gehirn wie ein Computer arbeite. Doch dann brachten bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie überraschende Erkenntnisse [2]. Indem die Forscher dem Gehirn beim Arbeiten zusahen, erkannten sie, dass jeder Gedanke von Gefühlen begleitet ist. Diese und folgende Erkenntnisse der Kognitionsforschung bedeuteten den Einstieg in ein neues Feld, die Intuitionsforschung. Sie findet heute unter anderem Berücksichtigung in der Wirtschaft - Manager trainieren in Seminaren ihr Bauchgefühl.
Dr. Gerd Gigerenzer, Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, ist einer der renommiertesten Intuitionsforscher. Er definiert Intuition als „gefühltes Wissen, das auf drei Eigenschaften beruht: Es ist erstens blitzschnell im Bewusstsein - man weiß, was das Richtige zu tun ist. Zweitens: Die Gründe dafür sind einem unbekannt. Drittens: Das Gefühl ist so stark, dass man danach handelt”. Der Psychologe ist überzeugt, dass die Intuition viele wichtige Entscheidungen leitet, und misst ihr einen hohen Stellenwert bei. Er räumt aber auch ein, dass es in der Natur unseres rationalen Wesens liegt, Nichterklärbarem skeptisch gegenüberzustehen.

Kein Denken ohne Fühlen!

Dass die Verbindung zwischen Wissen und Emotionen bedeutsam ist für die Fähigkeit, sinnvoll zu entscheiden, erkannte der amerikanische Neurologe António Damásio. In seinem 1997 erschienenen Buch „Descartes' Irrtum” berichtet er unter anderem von seinem Patienten Elliot [2, 3, 4]. Ärzte entfernten dem erfolgreichen Jurist und Familienvater einen Gehirntumor im Stirnlappen, dem Ort, von dem später bekannt wird, dass er Erinnerungen mit Gefühlen zusammenbringt.
Menschen können nur mithilfe von Gefühlen Entscheidungen treffen.
Doch nach dem Eingriff ist Elliot nicht mehr der Gleiche: Trotz intakter Intelligenz kann er plötzlich keine einzige Entscheidung mehr fällen. An seinem Arbeitsplatz verzettelt er sich uferlos in Unwichtigem. Ihm ist das Gespür für Prioritäten abhanden gekommen. Aber nicht, dass ihn dies störte: Während der Gespräche mit dem Neurologen schildert Elliot seine Situation völlig unbekümmert und nüchtern. Damásio stellt fest, dass es dem Patienten an jeglichen Emotionen mangelt. Elliots Leben nimmt eine dramatische Wende, und er verliert Arbeit und Familie. Nach der Analyse des Falls stellte António Damásio die Hypothese auf, dass Menschen nur mithilfe von Gefühlen Entscheidungen treffen können. Das Gehirn berücksichtige bei der Wahl zwischen zwei Alternativen immer die daran gekoppelten Gefühle. Als Konsequenz warnen oder bestätigen diese sogenannten somatischen Marker den Menschen. Dieser Hypothese stimmen viele Hirnforscher zu.
Das Unterbewusste des Menschen empfängt von der Umwelt mindestens 10 Millionen Sinneseindrücke pro Sekunde. Lediglich 40 davon gelangen in unser Bewusstsein. Kontinuierlich filtert das Unterbewusste alle Eingänge, speichert das Wissen im Hippocampus und die damit zusammenhängenden Gefühle im Limbischen System. Befindet sich eine Person in einer Situation, die einer vergangenen ähnlich ist, vergleicht ihr Unterbewusstes sie mit den abgespeicherten Daten und Gefühlen und bewertet die Situation daraufhin als positiv oder negativ. Der früher erlebte Moment in der Küche, in der Mutter einen duftenden Apfelkuchen backt, weckt auch später beim Geruch eines Apfelkuchens wohlige Gefühle.
In diesem Zusammenhang scheint der präfrontale Kortex eine wichtige Schaltstelle im Gehirn zu sein [4, 6]. Wissenschaftler gehen davon aus, dass hier Wissen und Gefühle zusammentreffen [5]. Sie vermuten, dass der präfrontale Kortex neue Situationen bewertet und gegebenenfalls körperliche Sensationen wie Zittern, Gänsehaut oder schwitzige Handflächen auslöst [2, 5]. Diese Signale machen das „Bauchgefühl” für den Menschen bemerkbar.

Intuition wächst mit Erfahrung

Intuition basiert also auf einem im Unterbewussten abgespeicherten, immensen Datenpool. „Experten, die in einem Gebiet viel Wissen und Erfahrung angesammelt haben, können dem Ergebnis ihrer Intuition vertrauen”, sagt Dr. Gerd Gigerenzer. Ihr Unterbewusstes sei imstande, den besten Handlungsweg zu identifizieren. Dabei könne intensives Nachdenken in gewissen Fällen sogar von Nachteil sein. Zum Beispiel bei motorischen Fähigkeiten: Ein exzellenter Golfspieler tue besser daran, im entscheidenden Moment seines Abschlags auf sein Gefühl zu vertrauen, anstatt ihn auf jedes Detail hin zu überprüfen. Im Gegensatz dazu rät der Intuitionsforscher allen Anfängern, sich möglichst viel Zeit zu nehmen und Informationen zu sammeln.
Auch in diesem Punkt sind sich die Wissenschaftler einig: In komplexen Situationen, in denen man bei einer Entscheidung zu viele Faktoren berücksichtigen müsste, ist es oft besser, seinem Bauchgefühl zu trauen. Das Entscheiden anhand eines nicht erklärbaren, aber überzeugenden Grundes kann erfolgreicher sein als das langwierige Abwägen von Pro und Kontra. Das zeigte unter anderem der niederländische Sozialpsychologe Ap Dijksterhuis in einem Experiment, bei dem sich die Probanden unter mehreren Autos für das beste entscheiden mussten. Dabei sollten sie im ersten Durchlauf vier Autoeigenschaften berücksichtigen, bei einem weiteren Mal zwölf. Eine Gruppe hatte Zeit zum Überlegen. Die Probanden der zweiten Gruppe wurden abgelenkt und mussten später gefühlsmäßig wählen. Beim Abwägen von vier Autoeigenschaften war die „Ratio-Gruppe” im Ergebnis noch überlegen. Als die Zahl der Eigenschaften allerdings auf zwölf stieg, entschied die „Intuitions-Gruppe” eindeutig erfolgreicher [4].
Auch in der Medizin kann es sinnvoll sein, auf ein wichtiges Argument zu hören, statt alle Aspekte zu berücksichtigen. So berichtet Dr. Gerd Gigerenzer in seinem Buch „Bauchentscheidungen” von einem 21 Monate alten Jungen, der mit Unterernährung und Ohrentzündungen in ein amerikanisches Krankenhaus eingeliefert wurde [7]. Die Eltern ließen ihn verwahrlosen, woraufhin der Junge die Nahrung verweigerte. Als der zuständige Arzt nach der Blutabnahme feststellte, dass das Kind daraufhin die Nahrung ablehnte, stoppte er weitere Untersuchungen und kümmerte sich darum, dass der Junge liebevoll versorgt wurde. Das restliche Ärzteteam bestand jedoch darauf, den Zustand des Kindes zwecks Diagnose weiter zu untersuchen. Der Arzt musste sich dem Drängen fügen. Wieder stellte der Junge das Essen ein und starb einige Wochen später. In diesem Fall wäre weniger gesichertes Wissen mehr gewesen.

Das Bauchgefühl erstellt den ersten Eindruck

Das Gefühl, das den Arzt die ausführliche Diagnostik des Jungen abbrechen ließ, hatte ihn nicht getäuscht. So eine Ahnung hat sicher schon jeder praktizierende Therapeut erlebt. Dieses „Irgendetwas stimmt hier nicht”. Manchmal beschleicht einen ein ungutes Gefühl, ohne dass man formulieren könnte, was genau stört. Hört man dann auf sein Gefühl, kann man daraus Konsequenzen ziehen und sich zum Beispiel bei Kollegen Rat holen.
Heutige Physiotherapeuten orientieren sich an Clinical Reasoning, Leitlinien und Evidence Based Practice. Intuition scheint eher das Gegenteil von objektiven Kriterien heranzuziehen, nämlich die subjektive Einschätzung. Trotzdem werden alle Therapeuten bestätigen, dass sie in ihrem Berufsalltag sowie im privaten Leben ab und zu auf ihre Intuition vertrauen. Überträgt man die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Physiotherapie, bedeutet das, dass ein Therapeut, der auf langjährige Erfahrung zurückgreifen kann, den Mut haben darf, auf sein Bauchgefühl zu hören. Da das Unterbewusste eines Erfahrenen viel mehr Eindrücke gespeichert hat als sein fokussiertes Bewusstsein, kann es in einer komplexen Situation Muster erkennen, die dem Bewusstsein entgehen. Ein weiterer Vorteil: Oft sparen intuitive Entscheidungen Zeit.
Ob eine Therapie erfolgreich ist, hängt auch von der Qualität der therapeutischen Beziehung zwischen Patient und Therapeut ab. Hierbei sind die intuitiven, sozialen Instinkte des Therapeuten gefragt. Diese lassen ihn Körpersprache, Mimik, Stimmlage und Emotionen verstehen [7]. Besonders beim ersten Eindruck muss der Therapeut gleichzeitig auf vielfältige Signale seines Gegenübers achten, sie analysieren und zu einem Bild zusammenfügen. In der Therapie schätzt er mithilfe seiner sozialen Instinkte ein, ob der Patient mit den Informationen, Übungen und Methoden einverstanden, unzufrieden oder gar überfordert ist. 1993 zeigten die Psychologen Nalini Ambady und Robert Rosenthal in einem Experiment, dass Menschen innerhalb kürzester Zeit ihr Gegenüber richtig einschätzen können. Dafür zeigten sie Studenten drei zehnsekündige, tonlose Videos von unterrichtenden Dozenten. Im Anschluss sollten sie beurteilen, wie erfolgreich und überzeugend die Dozenten lehrten. Das Ergebnis war überraschend: Ihre Einschätzungen wichen kaum von den Noten ab, die andere Studenten den Dozenten nach einem kompletten Semester gegeben hatten [8].
Das Unterbewusste eines Erfahrenen kann in einer komplexen Situation Muster erkennen, die dem Bewusstsein entgehen.

Stolperquelle Wissensmangel

Trotz allem sollte Intuition keinesfalls als Ersatz für mangelndes theoretisches Wissen missbraucht werden. Nur gespeichertes theoretisches Wissen und Erfahrungswissen ermöglicht es dem Unterbewussten, die Situation richtig einzuschätzen. Die größten Stolperquellen sind eigene Vorurteile, Wissenslücken und die aktuelle Stimmungslage. Diese können die innere Stimme in die Irre führen. Nie sollte man dem Bauchgefühl blind vertrauen, sondern immer überlegen, womit es zusammenhängen könnte. Reflektiert man seine intuitiven Erfahrungen, erweitert man seine „Erfahrungsgalerie” im Gehirn - auch wenn der Therapeut nicht weiß, warum die intuitiv gewählte Methode funktioniert hat, kennt er aber die Situation, die Methode und das Ergebnis. Auf all das kann er beim nächsten Mal zurückgreifen.
Außerdem scheint Intuition desto unangebrachter zu sein, je weniger Faktoren der Therapeut bei der Behandlung berücksichtigen muss. Hat sich ein Patient bei einem Sturz den distalen Radius gebrochen und behindert nun eine Bewegungseinschränkung seine Handgelenkflexion, ist der Fall klar: Zuerst braucht es eine mobilisierende Technik.

Gehirn und Bauch zusammenbringen

Physiotherapeuten können auf ihr logisches Denken und mit wachsender Erfahrung auf ihre Intuition vertrauen. Bildlich gesprochen fokussiert sich das Bewusstsein wie der helle Lichtstrahl eines Scheinwerfers auf die erkennbaren Fakten. Im Gegensatz dazu beleuchtet das Unterbewusstsein, einer schwächeren, aber breitstreuenden Lichtquelle gleich, unglaublich viele Aspekte. Es zieht aus dem Gesamtbild Schlüsse und empfiehlt dem Menschen einen Weg [2]. Experten können auf ihr Bauchgefühl hören, denn es führt sie schneller und oft zu einem besseren Ergebnis. Ohne Reflexion jedoch birgt die Intuition Gefahrenquellen, die es zu beachten gilt. Anfänger sollten weiterhin Erfahrung und Wissen sammeln und ihr Bauchgefühl gut prüfen, bevor sie sich darauf verlassen.
aus: physiopraxis 2011; 9(3): 22-25
DOI: 10.1055/s-0031-1275416